Neurodivergenz, Romantik & Beziehungen

das_sexy_alien:

Hinweis: In diesem Beitrag werden Sexarbeit und Gewalt in Beziehungen erwähnt.

Ich kann tatsächlich von mir behaupten, eine romantische Beziehung zu führen. Dass es soweit kam, ist etwas überraschend. Lange war so etwas wie „eine richtige Beziehung“ für mich etwas sehr abstraktes. Meiner Normschönheit zum Dank gab es zwar seit meiner Jugend immer wieder Menschen, die mir mehr oder weniger deutlich zu verstehen geben versuchten, an so etwas mit mir durchaus interessiert zu sein, doch es wurde mit mir einfach nie konkret. Entweder verstand ich Autist*in ihre Flirtversuche erst gar nicht als solche, oder ich war von ihrer Attraktivität dann doch nicht so beeindruckt, dass ich sie nah genug an mich und mein bereits in die Depression abgleitendes Gefühlsleben ran lassen wollte. Manche fand ich auch einfach sexuell schlicht nicht interessant.

Als mir mal jemand über einen längeren Zeitraum hinweg in sexueller Hinsicht zu gefallen vermochte, da entstand für mich zum ersten Mal tatsächlich eine Art Beziehung. Nur romantisch war diese nicht. Eine „richtige Beziehung“ wollte er auch nicht. In Konflikten und Gewalt endete unsere „Fick-Freundschaft“ trotzdem. Zum Glück ist das vorbei.

Die Beziehung, die ich jetzt habe ist dagegen sehr glücklich. Wie wir das hinkriegen? Nun, wir wohnen immer noch nicht zusammen. Obwohl wir schon mehrere Jahre zusammen sind. Wir haben auch nicht vor, es jemals zu tun. Zumindest nicht in näherer Zukunft. Wir brauchen beide viel Raum für uns selbst. Jede* von uns kriegt genug Platz für ihr* eigenes Chaos. Auch zeitlich lassen wir uns viel Raum. Ob für die Arbeit, die Self-Care oder andere Beziehungen. Sehen wir uns öfter als alle zwei Wochen, dann sehen wir uns für unsere Verhältnisse oft. Das hat sich so eingependelt und funktioniert für uns beide gut.

Es gibt vielleicht Leute, die behaupten möchten, unsere Beziehung wäre keine „richtige Beziehung“, wenn wir nicht bald zusammen ziehen, schwanger werden, heiraten, ein Haus bauen und einen Baum pflanzen. Aber wir haben uns schon früh in unserer Beziehung dagegen entschieden, sie normgerecht zu führen. Wir sind schließlich auch keine der Norm entsprechenden Menschen.

Unser Kennenlernen über eine Website für Swinger war schon etwas unkonventionell. Für mich ist es aber sehr angenehm schon vor dem ersten Date ziemlich genau zu wissen, was auf mich im Bett zukommen könnte. Auch war durch die Art, wie wir uns gefunden hatten, zwischen uns ein Bewusstsein da, dass nichts muss, aber sehr viel kann.

Unkonventionell war auch der Zeitpunkt in unserer Beziehung, an dem ich feststellte, romantische Gefühle entwickelt zu haben. Wir waren schon wirklich lange zusammen. Es lief gut mit uns. Es gab nichts, was ich zwischen uns vermisste. Ich freute mich immer auf unsere Treffen. Doch plötzlich, ohne dass ich es kommen sah, war da eine größere, aufregendere, überwältigendere Form von Freude, wenn wir uns wiedersahen. „Schmetterlinge im Bauch“ beschreibt dieses für mich neue Gefühl wirklichlich sehr gut. So fühlt sich also Romantik an. Faszinierend.

Ich kann jedoch froh sein, nicht so schnell romantische Gefühle zu entwickeln. Bei meiner Arbeit muss ich mich nicht an die Regel aus dem Film „Pretty Woman“ halten, dass eine* Sexarbeiter*in ihre Kund*innen keines Falls küssen sollte, sonst kämen Gefühle ins Spie. An diese Regel halten sich einige Kolleg*innen tatsächlich. Nein, ich kann recht authentischen „Girlfriend-Sex“ anbieten. Manchmal bin ich sogar für romantische Klischees wie ein Abendessen bei Kerzenschein zu haben. Dass es okay sein kann, wenn ich mich da nicht ganz angemessen verhalte, weiß ich ja aus „Pretty Woman“.


Noam:

Hinweis: In diesem Beitrag werden Gewalt in Beziehungen und selbstdestruktives Verhalten erwähnt.

Ich bin genderqueer und bisexuell. Und bipolar. Oder zumindest liege ich auf dem bipolaren Spektrum, weiss aber noch nicht wo. Zwischenzeitlich wusste ich nicht ob meine Neurodivergenz sich auf mein Geschlecht oder meine Sexualität auswirkt.
Ersteres kann ich inzwischen mit Sicherheit sagen: nein. Zweiteres: schon irgendwie. In selbstzerstörerischen Zeiten scheine ich mehr auf Männer zu „stehen“. Ausserhalb dessen hatte ich Crushes auf alle Möglichen Menschen mit verschiedenen Geschlechtern. Das hat mich zwischenzeitlich sehr fertig gemacht, inzwischen kann ich besser damit umgehen.

Ich bin tendenziell in eher stark sexuellen Phasen in Beziehungen geschlittert. Im Laufe derer konnte das dann aber auch ins krasse Gegenteil umschwanken. Ich dachte dann etwas stimme mit der Beziehung nicht (Ursache-Wirkung Depressionen und so)
Manchmal war da was dran, manchmal auch weniger. In meiner ersten Beziehung erfuhr ich dafür Gewalt. In den darauffolgenden tat ich sie mir eher selbst an aus Angst vor dem was ich in der Ersten gelernt hatte.

Vor allem in der (hypo?)manie als auch in gemischten Episoden war destruktiver Sex Teil von meinem Leben.

In diesen Momenten war mir mein Gegenüber eigentlich egal (manche von ihnen mochte ich nicht mal. Auch den Sex mochte ich nicht), was mich zwischenzeitlich an meiner Bisexualität hat zweifeln lassen.

Hatte das tatsächlich noch mit Begehren zu tun oder war das einfach nur mein unkontrollierbares Ich?

Etwa 2010/11 hatte ich dann meinen bislang heftigsten Zusammenbruch. Nachdem ich danach einigermassen meine Wunden geleckt hatte konnte ich auch wieder zarteres Begehren empfinden und fand mich angenehm überrascht wie vielseitig dieses doch sein kann. Wie fein und unterschiedlich und wunderschön. Das war auch der Moment in dem ich Bi als Identität für mich zurückerobern konnte.

In der Scherbenreichen Zeit nach dem Zusammenbruch, nach der Depression und inmitten einer gemischten Episode durch die Medikamente, lernte ich dann meinen jetzigen Partner kennen.

Vor allem in gemischten Episoden empfinde ich sexuelles Begehren nicht immer als angenehm, als ein wenig überwältigend und hart. Diese Zwischenebe der Zärtlichkeit fehlt, die Ruhe fehlt. Es kann Spaß machen, es kann aber auch zerstören. Jemanden zu haben der immer wieder nachfragt „möchtest du das gerade?“ hilft mir mich nicht im Rausch zu verlieren. Auch wenn es erst seltsam war. Überhaupt war es seltsam gefragt zu werden.

Ich bin sicher nicht die einfachste Person um eine Beziehung zu führen, aber in dieser habe ich gelernt das es nicht unmöglich ist. Jede Episode ist auf ihre eigene Weise in Ordnung hier. Ich darf meinen Partner auch unabhängig von Sex lieben. Ich glaube das ist das Neuste für mich.

Es ist nicht immer leicht, Begehren immer wieder anderst (oder gar nicht) zu spüren. Zu akzeptieren dass auch meine Sexualität schwanken kann war schwer.

Also ja, ich glaube es wirkt sich sehr auf meine Beziehung aus, aber macht mich nicht unliebbar, auch wenn ich das zwischenzeitlich geglaubt habe.


Lian:

Hinweis: In diesem Beitrag wird Gewalt in Beziehungen erwähnt.

Beziehungen finde ich schwierig.

In dieser Hinsicht (und auch in anderen Bereichen) fühle ich meine Eigenschaften sehr treffend von der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung beschrieben: Ich habe große Probleme damit, emotionale Nähe aufzubauen und zuzulassen. Es fällt mir schwer, anderen Menschen zu vertrauen. Ich gehe Menschen meistens aus dem Weg, auch, wenn ich sie eigentlich mag. Es gibt immer nur sehr wenige Leute in meinem Leben, die ich nicht aktiv vermeide, und das hat noch mit keinem Menschen länger als ein paar Jahre angehalten.

Ich kann mich bei weitem nicht genug auf andere Leute einlassen, um an Beziehungen auch nur zu denken. Schon die Vorstellung, jemanden emotional so nah an mich heranzulassen, macht mir Angst. Es ist mir unheimlich, einer anderen Person so viele Möglichkeiten zu bieten, mich zu verletzen. Es ist mir unangenehm, mich so angreifbar zu machen.

Dazu kommt, dass das Einleiten und Aufrechterhalten von Beziehungen viel Mut und Energie braucht, die ich nicht habe.

Daher bezeichne ich mich als aromantisch. Ich weiß nicht, was meine romantische Orientierung wäre, wenn ich diese Schwierigkeiten mit Nähe und Vertrauen nicht hätte.

Ich bin also wegen meiner Neurodivergenzen aromantisch.

In der Vergangenheit hatte ich zwei längere Beziehungen. In einer davon war mein Partner gewalttätig. Ich blieb in der Beziehung, weil ich dachte, es wäre normal, und weil ich die finanzielle und materielle Sicherheit brauchte, die ich durch die Beziehung erlangte. Es war mir nicht möglich, Manipulation als solche zu erkennen.

Nach dem Ende dieser Beziehung fing ich bald eine neue Beziehung mit einem sehr liebevollen Partner an. Für mich war die Beziehung trotzdem nur der Versuch, existenzielle Sicherheit zu erlangen, mich „normal“ zu fühlen und den gesellschaftlichen Erwartungen an meine Sexualität und Romantik gerecht zu werden. Als mir das bewusst wurde, beendete ich die Beziehung.

Seitdem hatte ich nie das Bedürfnis, eine neue Beziehung anzufangen. Das ist okay.

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