Texte gesucht: Neurodivergenz und Geschlecht

Wir suchen Texte, wie bei Euch Eure Neurodivergenz (alle Arten, auch mehrfach) und Euer Geschlecht (sei es cis Mann, cis Frau, trans, nichtbinär, agender, fluid, etc.) „zusammenspielen“. Im ersten Teil suche ich vor allem, inwieweit sich Eure Neurodivergenz auswirkt darauf, welches Geschlecht (falls überhaupt eines) Ihr seid, wie Ihr Euer Geschlecht denkt und fühlt und erlebt (falls überhaupt), und wie Ihr es ausdrücken oder nicht ausdrücken könnt (Äußerlichkeiten, evtl. auch medizinische Transition) und wie dieser Ausdruck sich auf Euer Leben (ggf. sozial, auch Gefühle, Denken etc.) wieder auswirkt.

Im zweiten Teil würde ich gerne den Fokus darauf richten, wie Euer (Nicht-)Geschlecht sich auf Eure Neurodivergenzen auswirkt. Wie Ihr im Zusammenhang mit Eurem Geschlecht die Neurodivergenzen erlebt. Wie dadurch (und evtl. auch durch andere Identitäten!) Diagnose(n) und Unterstützung zugänglich war oder nicht, usw.

Hier ist der Aufruf für Texte zum ersten Teil: Wir bitten um Texte, bis zu ca. 500 Wörter lang. (Nicht-)Geschlecht als Neurodivergente.

Einsendungen von Menschen mit anderweitig marginalisierten Identitäten (rassifiziert, nicht Mittelklasse, zusätzlichen körperlichen Behinderungen, Intersex, etc.) sind besonders willkommen. Genauso auch Einsendungen von Leuten mit mehrfachen Neurodivergenzen und/oder solchen, die besonders marginalisiert sind (z.B. Schizospektrum, Persönlichkeitsstörungen).

Für Rückfragen, und um Beiträge einzusenden, nutzt unseren Kontakt. Ihr könnt auch mich selbst kontaktieren.

Bitte sendet Beiträge bis Ende Januar ein. Wenn Euch das zu bald sein sollte oder alleine zu schreiben nicht gut geht, könnt Ihr aber gerne Euch melden. Wir finden bestimmt eine Lösung.

EDIT: Aus Gründen™ können Beiträge mindestens noch bis Ende der ersten Februar-Woche, also 7. Februar, eingereicht werden. Wenn Ihr also etwas schreiben wollt und es zum Ende Januar nicht schafft, aber bis 7. Februar, braucht Ihr nicht gesondert Kontakt aufnehmen.

Kompensation und Überkompensation

[Vielen Dank an @modern_dragon für diesen Gastbeitrag! – pe]

Kompensation und Überkompensation

Viele Menschen sind überrascht, wenn ich mich als AD(H)S-Betroffene zu erkennen gebe. Denn das Bild, das sie von AD(H)S haben, ist nur ein winziger Ausschnitt und nur eine der vielen Arten, wie sich diese spezielle Neurodivergenz manifestieren kann. Wenn in den Medien von AD(H)S die Rede ist, dann wird meistens das Stereotyp vom unkonzentrierten, hyperaktiven Grundschulkind, das mit seiner Unruhe seine Umwelt in den Wahnsinn treibt, zitiert; meistens wird nur an Jungen gedacht. Dass Konzentrationsschwierigkeiten und Hyperaktivität nur zwei von sehr vielen möglichen Symptomen sind und AD(H)S auch im Erwachsenenalter fortbesteht, wird ignoriert.

Ein zweiter Grund, warum ich üblicherweise nicht auffalle, ist meine Fähigkeit zur Kompensation. Um dieses Phänomen soll es in diesem Text hier gehen.

Was ich im folgenden schreibe, gilt wahrscheinlich auch für andere Neurodivergenzen, die mit emotionaler Dysregulation, Reizsensitivität und/oder exekutiver Dysfunktion einhergehen.

Was ist Kompensation eigentlich?

Die Wörterbuchdefinition (Der Kleine Wahrig. Wörterbuch der deutschen Sprache, München : dtv 1978) lautet: „kompensieren (med.): anatomische oder funktionelle Störungen eines Organes oder Organteiles durch gesteigerte Tätigkeit eines anderen Organs oder Organteiles ausgleichen.“

Kompensieren heißt also: Die Nachteile und Schwierigkeiten, die meine Neurodivergenz mit sich bringt, durch bestimmte Verhaltensweisen oder durch den Einsatz von mehr Energie und/oder Willenskraft ausgleichen.

Warum Kompensation nicht (immer nur) toll ist

Eins könnte ja jetzt denken: „Du kannst Deine Störung kompensieren (resp. dich manchmal, zeitweise oder fast immer so verhalten wie eine neurotypische Person)? Ist doch prima! Problem gelöst!“ Nicht ganz.

Kompensation kostet nämlich Kraft. Eins verbiegt sich, tut sich Gewalt an, treibt sich unglaublich hart an, um den Ansprüchen der Gesellschaft zu entsprechen. Kompensation heißt zumindest, dass mich Dinge (z.B. geistiges Arbeiten in unruhiger Umgebung) mehr Kraft kosten als neurotypische Menschen. Kompensation heißt, dass ich deswegen deutlich weniger Energiereserven habe und wesentlich schneller an die „ich kann nicht mehr”-Schwelle komme bzw. im Notfallmodus funktioniere. Kompensation heißt, dass mich dasselbe Arbeitspensum mehr erschöpfen kann als eine neurotypische Person (wenn Inhalt und Umstände der Arbeit mir nicht sehr entgegenkommen) und dass ich in der Folge auf die Dauer nicht so viel arbeiten kann.

Kompensationsstrategien können destruktiv sein. Dass ich in Bürojobs bis zu fünf Tassen starken Kaffee pro Tag trank, hatte nicht nur mit sozialem Jetlag zu tun, sondern war auch eine Art dysfunktionaler Selbstmedikation. Übermäßige Härte gegen sich selbst, Selbstabwertung und ständiges Sich-Antreiben führt zu Ruhelosigkeit, chronischer innerer Anspannung, kaputtem Selbstwertgefühl, dazu, sich nie eine Pause zu erlauben und in der Konsequenz Erschöpfung. Wenn mein Selbstwertgefühl daran hängt, wie viele unlustbesetzte Dinge ich bewältigen kann (weil das Beweisen, dass ich nicht faul, d*mm, undiszipliniert oder total verpeilt bin, ein wichtiger Teil meines Selbstbildes wurde), dann stelle ich Dinge, die mir Spaß machen und zur Regeneration beitragen, so oft hintenan, dass ich am Ende nie dazu komme.

Ein weiteres Beispiel ist das, was ich Notfallmodus nenne: Unter großem Druck kann ich nämlich kurzfristig (!) viel Energie mobilisieren und dadurch fokussiert und geistesgegenwärtig handeln. Im Grunde treibt mich die Notfallsituation in einen hyperfokussierten Zustand. Nur bleibt ein Notfall ein Notfall, und der damit verbundene Streß ist nichts, was ich immer haben muss. Bevor ich meine Diagnose bekam, wünschte ich mir oft, ich könnte diesen glasklaren Fokus und diese Effektivität, mit der ich unter großem Druck oft handeln kann, auch ohne den Druck haben. Mich einfach immer unter Stress zu setzen, wäre ein weiteres Beispiel einer destruktiven Kompensationsstrategie.

Ich weiß nicht, ob ich Hyperfokus als Kompensationsmechanismus zählen soll, da er sich meistens nicht absichtlich auslösen läßt. Hyperfokus hat seine Nebenwirkungen: Ich bin dann extrem auf Details fokussiert und vergesse das Große Ganze; Ich habe noch weniger Zeitwahrnehmung als normal; es fällt mir extrem schwer, auf eine andere Aufgabe umzustellen; ich merke oft körperliche Bedürfnisse nicht oder schiebe sie auf. Wenn ich aus dem Hyperfokus herauskomme, bin ich oft erschöpft und muß mich erstmal um meine körperlichen Bedürfnisse kümmern. In tiefem Hyperfokus arbeite ich sehr intensiv und habe danach oft keine große Konzentrationsfähigkeit oder exekutive Funktion mehr übrig.

Kompensationsstrategien funktionieren nicht immer. Manchmal versagt meine Kompensationsfähigkeit – unter Umständen unvorhergesehen. Dann hilft zum Beispiel kein gestellter Alarm, um mich pünktlich zu machen, ich vergesse meine Checklist, ich überhöre den Reminder, ich verliere mich in meinem Produktivitätssystem, oder ich kann mich partout nicht aufraffen, jetzt mit etwas anzufangen, das erledigt werden muß (auf das ich aber keine Lust habe).

Kompensationsstrategien kosten Zeit und Energie. Manche Dinge, die mir helfen, zu kompensieren, brauchen Zeit. Gerade die unschädlichen Strategien (etwa: Sport, Meditieren, gesundes Essen, … ) kosten auch etwas Energie, und wenn meine Energiereserven schon völlig aufgebraucht sind, ist das ein Problem.

Wenn das Fass voll ist

Wenn meine Kapazität, zu kompensieren, ihre Grenze überschritten hat, können unangenehme Dinge passieren:

  • Erschöpfung und depressive Zustände
  • Wutanfälle oder andere Gefühlsausbrüche
  • Panikanfälle
  • Blackouts, d.h. ich kann auf Erlerntes, sonst vorhandene Fähigkeiten, rationales Denken, Erinnerungen nicht zugreifen
  • ich mache Fehler (u.U. bei Dingen, die ich sonst problemlos hinbekomme); Dinge gehen dann erst recht schief, unter Umständen spektakulär.

Überkompensation

Manchmal sind oder erscheinen kompensierende AD(H)Sler_innen organisierter, leistungsfähiger und disziplinierter als durchschnittliche neurotypische Menschen. Wenn wir hyperfokussieren, kann es heißen: „Aber du kannst dich doch konzentrieren, wenn dich was interessiert!“ (was gern unzutreffenderweise gleichgesetzt wird mit „… wenn du nur willst!“). Dass Hyperfokus nur begrenzt oder gar nicht willentlich steuerbar ist und viele von uns kaum oder gar keine Zwischenstufen zwischen „vollkommen offen für alles, was gerade unsere Aufmerksamkeit erregt“ und Hyperfokus haben, wird dann übersehen. Das bedeutet nicht, dass wir weniger aufmerksamkeitsgestört sind. Es kann heißen, dass wir gerade gut funktionieren, weil die Umstände günstig sind, weil uns etwas interessiert oder weil uns eine bestimmte intellektuelle Anforderung leicht fällt. Und es kann sein, dass wir mit der Anpassung über das Ziel herausschießen und ohnehin alles hundertzehnprozentig machen wollen, oder dass wir so sehr fürchten, die Kontrolle zu verlieren, dass wir ins andere Extrem fallen.

Überkompensation kann sich dann zum Beispiel manifestieren als

  • Perfektionismus
  • zwanghaftes Verhalten
  • sich ständig antreiben und unter Druck setzen
  • nicht zur Ruhe kommen

Kompensationsfaktoren und -strategien

Die folgenden Dinge sorgen dafür, dass mich mein Alltag weniger Kraft kostet und erleichtern mir, wenn nötig, das Kompensieren:

  • neurodivergenz-kompatible Umwelt (für mich heißt das: Ruhe, Sicherheit, Rückzugsmöglichkeiten, wenig Anforderungen auf einmal, Gefühl von Überblick, Ordnung und Kontrolle) nimmt mir die Anforderung ab, überhaupt zu kompensieren.
  • Wenn etwas neu und spannend ist, kann ich mich gut darauf konzentrieren
  • (genuines, nicht verordnetes) Interesse an einer Sache
  • Selbstorganisationstechniken und bewußtes (aber mir gemäßes) Zeitmanagement
  • Struktur schaffen – Struktur und Überblick helfen mir, sortiert und fokussiert zu bleiben; „mich sortieren“ (z.B. durch das Schreiben von Listen oder Plänen) ist ein konstruktiver Umgang mit mentalem Overload (der allerdings Zeit kostet).
  • Bewußt eingesetzte Zeitstruktur, Zeitkontingentierung
  • Meditation und Entspannungsübungen können mich in einem gewissen Umfang fokussierter und organisierter machen. Sie können allerdings auch meine Reizempfindlichkeit erhöhen.
  • Sport und Musizieren sind Aktivitäten, die mir helfen, mich zu regenerieren bzw. die meine Konzentrationsfähigkeit verbessern. Ausdauersport ist eine gute Gelegenheit, psychische Anspannung abzubauen.
  • In gutem Kontakt mit meinem Körper zu sein und auf körperliche Bedürfnisse (Essen, Trinken, Ruhe, Schlaf, Bewegung) zu achten, ist ein Resilienzfaktor; das hilft mir, fokussierter und „sortierter“ zu sein und mich weniger zu erschöpfen.

Schlusswort

Menschen, die sich ihrer neuro-atypischen Veranlagung nicht bewußt sind, (über)kompensieren oft automatisch und schieben den Verdacht, ihre Schwierigkeiten mit bestimmten Dingen könnten am Nervensystem liegen, weit von sich. Ich habe von wenigen Menschen so abwehrende Reaktionen auf meine Auseinandersetzung mit (meinem) AD(H)S bekommen wie von denen, bei denen ich vermute, sie könnten ebenfalls betroffen sein.

Ich halte Kompensation bis zu einem gewissen Grade für unvermeidlich, wenn eins in einer Welt zurechtkommen will, in der die Norm immer noch „neurotypisch“ heisst. Wenn ich allerdings bewusst mit dem Umfang und der Art meiner Kompensation umgehe, kann ich sie auch konstruktiver gestalten, destruktive Strategien abbauen, an ihrer Stelle weniger schädliche wählen und verinnerlichte Abwertung Schritt für Schritt durch einen freundlicheren Umgang mit mir selbst ersetzen.

Was sind Meltdowns?

Nemo:

Ein Meltdown ist das, was ich immer vorsichtig „Anfall“ nenne. Natürlich gibt es Tage, an denen komme ich so gar nicht klar, an denen ich nur noch heulend im Bett liege. Aber das ist nur der Regen vor dem Sturm. Ich bin Schizophren. Das sagten mir die Ärzte als ich 15 war. Ich leide an einer Psychose, sagten sie zu meinen Eltern.

Alles kann ein Auslöser für meine „Anfälle“ sein, meistens braucht es gar keinen wirklichen Auslöser, das macht mein Kopf dann alles von alleine. Ich könnte sagen, dass er sich ankündigt, aber das schwere Gefühl in der Brust und das Rauschen in meinem Kopf sind schon so unerträglich, dass es ab da eh kein Zurück mehr gibt.

Das Schlimmste ist dann die Flucht, die Flucht vor dem, was um mich herum ist. Ob ich gerade in der Schule bin, auf der Arbeit oder unterwegs mit Freunden, der Anfall kennt keinen Respekt. Wenn ich in einer sozialen Situation fest hänge, beginnt mein Körper damit, hin und her zu schaukeln, leise flüstere ich „Ich will nach Hause“ immer und immer wieder.

Jetzt merke ich sowieso nicht mehr, was um mich herum geschieht. Bis auf wenige Ausnahmen hat sich diese grausame Phase so lange gezogen, bis ich irgendwo allein war. Wie ich oder mein Körper das aushalten ist mir bis heute nicht klar.

Zwischen 4 Wänden kauere ich am Boden, zitternd und heulend. Mein Kopf ist wie leer gefegt, dennoch höre ich Stimmen, die mir zurufen, was für ein schreckliches Wesen ich bin, dass mir etwas fehlt, dass ich nie hätte geboren werden sollen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich schreie oder es sich nur so anfühlt.

Mein ganzer Körper schmerzt, als würde eine schwarze, brennende Masse sich unter meine Haut pressen und in jede einzelne Ader eindringen. Auf einmal quält mich jeder schmerzhafte Gedanke auf einmal, um mich herum seh ich nichts mehr, nur dunkle Schatten und Wände. Ich kann mir jetzt nicht mehr vorstellen, dass ich noch eine weitere Sekunde überlebe, während der nächste Atemzug mehr von dieser schwarzen Masse unter meine Haut lässt.

Oft schlage ich mich, raste aus und renne gegen die Wände, laufe im Kreis wie eine angestochene Sau, panisch und ziellos. Dann setzt die Tetanie ein. Meine Gliedmaßen verkrampfen sich. Wirklich merken tue ich das nicht, zu dem Zeitpunkt bin ich viel eher damit beschäftigt, mich mit meinen Gedanken im Kreis zu drehen. Zu versuchen, die von allen Seiten angeschossen kommenden Worte und Bilder irgendwie zu verarbeiten. Ich lande wie ein getroffener Vogel plump auf dem Boden, mein ganzer Körper wie in sich selbst gewickelt, verkrampft ringe ich nach Luft. Die Zuckungen wirken von außen sicher beängstigend, aber mich sieht ja niemand, vielleicht bilde ich mir das alles nur ein – der letzte Gedanke, zu dem ich dann nach Stunden irgendwann aus Erschöpfung einschlafe, oder auch das Bewusstsein verliere.


Lian:

Meltdowns definiere ich für mich über den Kontrollverlust. Ich kann nicht richtig denken und meine Handlungen kaum oder gar nicht steuern.

Ich bekomme Meltdowns als Reaktion auf Enttäuschungen, Frustration, Angst, Trauma-Trigger, allgemeine emotionale Belastung, Reizüberlastung, Stress und vieles andere. Ich erkenne meine Meltdowns stark in der Beschreibung anderer Autist*innen wieder.

Für mich bestehen Meltdowns aus 3 Stufen:

1) Vorstufe: Manchmal bahnt sich der Meltdown über Stunden oder 1-2 Tage an. Dann fühle ich mich unruhig, gereizt und bin sehr empfindlich. Alles ist unaushaltbar und nichts macht es besser. Ich nenne das „Ameisen unter der Haut“, weil ich nicht entkommen kann.

2) Zusammenbruch: Mein Gehirn hört auf, richtig zu funktionieren. Ich verbeiße mich an irgendeinem unangenehmen Thema, das gerade sehr präsent ist. Ich denke im Kreis. Ich bin davon überzeugt, dass es nie wieder besser wird. Ich kann nicht aufhören zu weinen. Manchmal weine ich so heftig, dass ich mich davon übergeben muss.

In diesem Zustand mache ich oft anderen Menschen Vorwürfe, wenn ich davon überzeugt bin, dass sie „schuld“ sind. Manchmal blamiere ich mich auch öffentlich, z.B. indem ich meinen Meltdown live tweete. Ich bin oft verletzend gegenüber den Menschen, mit denen ich in diesem Zustand kommuniziere.

Ich bin überzeugt, dass meine Reaktion völlig angemessen und verhältnismäßig ist. Wenn mir z.B. mein Abendessen verbrannt ist, bin ich mir absolut sicher, dass ich ohne genau dieses Abendessen nie wieder glücklich sein kann, weil ich hungrig nicht schlafen kann, ohne Schlaf wird der morgige Tag furchtbar und alles danach wird auch schlimm und mein ganzes Leben wird nie wieder gut.

Der Zusammenbruch kann sich stundenlang hinziehen. Er ist extrem kräftezehrend und schädlich. Er zerstört Freundschaften und andere Beziehungen, lässt mich irrationale Entscheidungen treffen und bringt mich manchmal dazu, mich selbst zu verletzen.

Manchmal bekomme ich wie ein Zuschauer mit, was gerade passiert und wie irrational es ist. Vielleicht sehe ich die Lösung des Problems sogar genau vor mir. Ich kann aber den Lauf des Meltdowns trotzdem nicht beeinflussen und bin nicht in der Lage, die problemlösende Handlung umzusetzen.

3) Meltdown: Schließlich erreiche ich den völligen Meltdown, in dem ich den letzten Rest meiner Kontrolle verliere. Meistens kann ich diese Stufe verschieben, bis ich alleine bin. Manchmal zerschlage ich Gegenstände. Oft schlage ich mir gegen den Kopf oder auf die Oberschenkel, manchmal sitze ich auch einfach nur auf dem Fußboden und schaukele. Wenn ich es schaffe, setze ich mich in die Dusche und halte es dort aus. Ich verkrampfe und zittere am ganzen Körper. Ich kann nicht sprechen oder anderweitig kommunizieren.

Das dauert normalerweise nur einige Minuten. Wenn es ein schlimmer Meltdown ist, wiederholen sich aber Stufe 2 und 3 mehrmals im Wechsel.

Als Kind und Teenie habe ich mich während Meltdowns oft mit meinem Bruder gestritten. Es kam auch vor, dass ich körperlich aggressiv wurde. Als Kind verband ich Meltdowns mit einem Gefühl allumfassender, unhaltbarer, grundloser Wut. Mit der Zeit änderte sich das zu einem Gefühl bodenloser Verzweiflung.

Meltdowns sind der Grund, warum ich Angst vor alltäglichen Dingen wie Telefonieren, Terminen, sozialer Interaktion und anderen anstrengenden Situationen habe, die Meltdowns auslösen können.


projectenigma:

Ich habe neulich Meltdowns can be silent (Autism Spectrum Explained) [Übersetzung: Meltdowns können lautlos sein] gelesen. Dort schreibt Creigh, dass sich Meltdowns auch nach innen richten können. Also nicht nur Schreien, Dinge werfen, und ähnliches, sondern auch schlimme Gedanken und Gefühle gegen eine_n selbst.

Bei mir ist das fast nur so. Ich bin in der Situation oft daheim. Dann liege ich zum Beispiel im Bett. Dabei Gefühle von Selbsthass. Und Gedanken, alles hat keinen Sinn, ich bin schlecht, ich sollte mich von allen Leuten zurückziehen.

Oder ich stehe in der Küche und heule. Dabei auch ähnliche Gedanken, so die Küche ist Mist und ich werde daran nie etwas ändern können und ich bin schlecht und werde nie etwas hinbekommen.

Wenn Personen dabei sind, kann es auch sein, dass ich sie anmeckere. Tipps, was gut für mich sein könnte, funktionieren sowieso nicht. Das denke ich und sage das auch. Ständiges “Ich weiß nicht” kann auch so eine Aussage sein.

Häufig ist irgendeine Frustration, die von außen klein erscheint, der Anlass für eine solche Art Meltdown. Beim Gemüse-Schneiden in meiner Küche fallen zu viele Stücke davon auf den Boden. Ich bekomme sonst irgendetwas, was ich hinbekommen “sollte”, nicht hin. Oder ich bekomme von außen etwas gesagt, was mich frustiert. Egal, ob das berechtigt ist oder nicht. Oder ich bin schon sehr reizüberflutet und jemand spricht mich trotzdem an.

Was mir wirklich hilft, ist mir noch nicht so ganz klar. Wenn eine Person das ganze (mit) ausgelöst hat, ist es wohl meistens gut, wenn diese Person mich erst einmal in Ruhe lässt. Selbst wenn ich mit ihr_ihm “streite”. Dinge besprechen/klären geht besser hinterher. Denn währenddessen ist sowieso alles schlimm und falsch. Wenn eine Sache mich frustriert hat und das geht, z. B. bei Küchenarbeiten, kann es helfen, mir diese Arbeit abzunehmen. Wenn jemand es schafft, mir klarzumachen, dass etwas nicht so eilig und wichtig ist, kann das den auslösenden Druck und Frust absenken, so dass ich nicht noch tiefer “reinrutsche”. Dann kann es sein, dass ich mich manchmal recht schnell wieder erhole.

Manchmal sind Meltdowns bei mir kurz, nur ein paar Sekunden bis Minuten. Manchmal ist es länger, mit “Aufs” und “Abs”. Oft habe ich prinzipiell noch die Möglichkeit, mit einem kleinen Eck meines Verstandes mitzubekommen, was los ist, und mit Anstrengung z. B. irgendwie zu sagen, was helfen kann. Das dann aber nicht unbedingt freundlich und gut kommuniziert.

Hinterher ist das dann emotional weit weg. Ich habe nicht mehr so viel Verbindung zu dem, was war. Wenn ich im Meltdown jemand unfreundlich angegangen bin, fällt es mir schwer, das von mir aus anzusprechen, vor allem wenn das mündlich war. Es ist natürlich okay und gut, wenn andere mich dann darauf ansprechen, damit das geklärt werden kann.

Ist das nun Meltdown, was ich erlebe? Auch ohne ganz vollen Kontrollverlust? Auch wenn “nur” eine Weile meine Emotionen Wellen schlagen (Redewendung)?


Wir würden uns gerne noch weitere Berichte dieser Art wünschen, um sie in einem 2. Teil zu veröffentlichen! Ihr könnt sie an neuroqueer.blog@gmail.com schicken oder euch über unseren Twitter-Account mit uns in Verbindung setzen.