Nemo:
Ein Meltdown ist das, was ich immer vorsichtig „Anfall“ nenne. Natürlich gibt es Tage, an denen komme ich so gar nicht klar, an denen ich nur noch heulend im Bett liege. Aber das ist nur der Regen vor dem Sturm. Ich bin Schizophren. Das sagten mir die Ärzte als ich 15 war. Ich leide an einer Psychose, sagten sie zu meinen Eltern.
Alles kann ein Auslöser für meine „Anfälle“ sein, meistens braucht es gar keinen wirklichen Auslöser, das macht mein Kopf dann alles von alleine. Ich könnte sagen, dass er sich ankündigt, aber das schwere Gefühl in der Brust und das Rauschen in meinem Kopf sind schon so unerträglich, dass es ab da eh kein Zurück mehr gibt.
Das Schlimmste ist dann die Flucht, die Flucht vor dem, was um mich herum ist. Ob ich gerade in der Schule bin, auf der Arbeit oder unterwegs mit Freunden, der Anfall kennt keinen Respekt. Wenn ich in einer sozialen Situation fest hänge, beginnt mein Körper damit, hin und her zu schaukeln, leise flüstere ich „Ich will nach Hause“ immer und immer wieder.
Jetzt merke ich sowieso nicht mehr, was um mich herum geschieht. Bis auf wenige Ausnahmen hat sich diese grausame Phase so lange gezogen, bis ich irgendwo allein war. Wie ich oder mein Körper das aushalten ist mir bis heute nicht klar.
Zwischen 4 Wänden kauere ich am Boden, zitternd und heulend. Mein Kopf ist wie leer gefegt, dennoch höre ich Stimmen, die mir zurufen, was für ein schreckliches Wesen ich bin, dass mir etwas fehlt, dass ich nie hätte geboren werden sollen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich schreie oder es sich nur so anfühlt.
Mein ganzer Körper schmerzt, als würde eine schwarze, brennende Masse sich unter meine Haut pressen und in jede einzelne Ader eindringen. Auf einmal quält mich jeder schmerzhafte Gedanke auf einmal, um mich herum seh ich nichts mehr, nur dunkle Schatten und Wände. Ich kann mir jetzt nicht mehr vorstellen, dass ich noch eine weitere Sekunde überlebe, während der nächste Atemzug mehr von dieser schwarzen Masse unter meine Haut lässt.
Oft schlage ich mich, raste aus und renne gegen die Wände, laufe im Kreis wie eine angestochene Sau, panisch und ziellos. Dann setzt die Tetanie ein. Meine Gliedmaßen verkrampfen sich. Wirklich merken tue ich das nicht, zu dem Zeitpunkt bin ich viel eher damit beschäftigt, mich mit meinen Gedanken im Kreis zu drehen. Zu versuchen, die von allen Seiten angeschossen kommenden Worte und Bilder irgendwie zu verarbeiten. Ich lande wie ein getroffener Vogel plump auf dem Boden, mein ganzer Körper wie in sich selbst gewickelt, verkrampft ringe ich nach Luft. Die Zuckungen wirken von außen sicher beängstigend, aber mich sieht ja niemand, vielleicht bilde ich mir das alles nur ein – der letzte Gedanke, zu dem ich dann nach Stunden irgendwann aus Erschöpfung einschlafe, oder auch das Bewusstsein verliere.
Lian:
Meltdowns definiere ich für mich über den Kontrollverlust. Ich kann nicht richtig denken und meine Handlungen kaum oder gar nicht steuern.
Ich bekomme Meltdowns als Reaktion auf Enttäuschungen, Frustration, Angst, Trauma-Trigger, allgemeine emotionale Belastung, Reizüberlastung, Stress und vieles andere. Ich erkenne meine Meltdowns stark in der Beschreibung anderer Autist*innen wieder.
Für mich bestehen Meltdowns aus 3 Stufen:
1) Vorstufe: Manchmal bahnt sich der Meltdown über Stunden oder 1-2 Tage an. Dann fühle ich mich unruhig, gereizt und bin sehr empfindlich. Alles ist unaushaltbar und nichts macht es besser. Ich nenne das „Ameisen unter der Haut“, weil ich nicht entkommen kann.
2) Zusammenbruch: Mein Gehirn hört auf, richtig zu funktionieren. Ich verbeiße mich an irgendeinem unangenehmen Thema, das gerade sehr präsent ist. Ich denke im Kreis. Ich bin davon überzeugt, dass es nie wieder besser wird. Ich kann nicht aufhören zu weinen. Manchmal weine ich so heftig, dass ich mich davon übergeben muss.
In diesem Zustand mache ich oft anderen Menschen Vorwürfe, wenn ich davon überzeugt bin, dass sie „schuld“ sind. Manchmal blamiere ich mich auch öffentlich, z.B. indem ich meinen Meltdown live tweete. Ich bin oft verletzend gegenüber den Menschen, mit denen ich in diesem Zustand kommuniziere.
Ich bin überzeugt, dass meine Reaktion völlig angemessen und verhältnismäßig ist. Wenn mir z.B. mein Abendessen verbrannt ist, bin ich mir absolut sicher, dass ich ohne genau dieses Abendessen nie wieder glücklich sein kann, weil ich hungrig nicht schlafen kann, ohne Schlaf wird der morgige Tag furchtbar und alles danach wird auch schlimm und mein ganzes Leben wird nie wieder gut.
Der Zusammenbruch kann sich stundenlang hinziehen. Er ist extrem kräftezehrend und schädlich. Er zerstört Freundschaften und andere Beziehungen, lässt mich irrationale Entscheidungen treffen und bringt mich manchmal dazu, mich selbst zu verletzen.
Manchmal bekomme ich wie ein Zuschauer mit, was gerade passiert und wie irrational es ist. Vielleicht sehe ich die Lösung des Problems sogar genau vor mir. Ich kann aber den Lauf des Meltdowns trotzdem nicht beeinflussen und bin nicht in der Lage, die problemlösende Handlung umzusetzen.
3) Meltdown: Schließlich erreiche ich den völligen Meltdown, in dem ich den letzten Rest meiner Kontrolle verliere. Meistens kann ich diese Stufe verschieben, bis ich alleine bin. Manchmal zerschlage ich Gegenstände. Oft schlage ich mir gegen den Kopf oder auf die Oberschenkel, manchmal sitze ich auch einfach nur auf dem Fußboden und schaukele. Wenn ich es schaffe, setze ich mich in die Dusche und halte es dort aus. Ich verkrampfe und zittere am ganzen Körper. Ich kann nicht sprechen oder anderweitig kommunizieren.
Das dauert normalerweise nur einige Minuten. Wenn es ein schlimmer Meltdown ist, wiederholen sich aber Stufe 2 und 3 mehrmals im Wechsel.
Als Kind und Teenie habe ich mich während Meltdowns oft mit meinem Bruder gestritten. Es kam auch vor, dass ich körperlich aggressiv wurde. Als Kind verband ich Meltdowns mit einem Gefühl allumfassender, unhaltbarer, grundloser Wut. Mit der Zeit änderte sich das zu einem Gefühl bodenloser Verzweiflung.
Meltdowns sind der Grund, warum ich Angst vor alltäglichen Dingen wie Telefonieren, Terminen, sozialer Interaktion und anderen anstrengenden Situationen habe, die Meltdowns auslösen können.
projectenigma:
Ich habe neulich Meltdowns can be silent (Autism Spectrum Explained) [Übersetzung: Meltdowns können lautlos sein] gelesen. Dort schreibt Creigh, dass sich Meltdowns auch nach innen richten können. Also nicht nur Schreien, Dinge werfen, und ähnliches, sondern auch schlimme Gedanken und Gefühle gegen eine_n selbst.
Bei mir ist das fast nur so. Ich bin in der Situation oft daheim. Dann liege ich zum Beispiel im Bett. Dabei Gefühle von Selbsthass. Und Gedanken, alles hat keinen Sinn, ich bin schlecht, ich sollte mich von allen Leuten zurückziehen.
Oder ich stehe in der Küche und heule. Dabei auch ähnliche Gedanken, so die Küche ist Mist und ich werde daran nie etwas ändern können und ich bin schlecht und werde nie etwas hinbekommen.
Wenn Personen dabei sind, kann es auch sein, dass ich sie anmeckere. Tipps, was gut für mich sein könnte, funktionieren sowieso nicht. Das denke ich und sage das auch. Ständiges “Ich weiß nicht” kann auch so eine Aussage sein.
Häufig ist irgendeine Frustration, die von außen klein erscheint, der Anlass für eine solche Art Meltdown. Beim Gemüse-Schneiden in meiner Küche fallen zu viele Stücke davon auf den Boden. Ich bekomme sonst irgendetwas, was ich hinbekommen “sollte”, nicht hin. Oder ich bekomme von außen etwas gesagt, was mich frustiert. Egal, ob das berechtigt ist oder nicht. Oder ich bin schon sehr reizüberflutet und jemand spricht mich trotzdem an.
Was mir wirklich hilft, ist mir noch nicht so ganz klar. Wenn eine Person das ganze (mit) ausgelöst hat, ist es wohl meistens gut, wenn diese Person mich erst einmal in Ruhe lässt. Selbst wenn ich mit ihr_ihm “streite”. Dinge besprechen/klären geht besser hinterher. Denn währenddessen ist sowieso alles schlimm und falsch. Wenn eine Sache mich frustriert hat und das geht, z. B. bei Küchenarbeiten, kann es helfen, mir diese Arbeit abzunehmen. Wenn jemand es schafft, mir klarzumachen, dass etwas nicht so eilig und wichtig ist, kann das den auslösenden Druck und Frust absenken, so dass ich nicht noch tiefer “reinrutsche”. Dann kann es sein, dass ich mich manchmal recht schnell wieder erhole.
Manchmal sind Meltdowns bei mir kurz, nur ein paar Sekunden bis Minuten. Manchmal ist es länger, mit “Aufs” und “Abs”. Oft habe ich prinzipiell noch die Möglichkeit, mit einem kleinen Eck meines Verstandes mitzubekommen, was los ist, und mit Anstrengung z. B. irgendwie zu sagen, was helfen kann. Das dann aber nicht unbedingt freundlich und gut kommuniziert.
Hinterher ist das dann emotional weit weg. Ich habe nicht mehr so viel Verbindung zu dem, was war. Wenn ich im Meltdown jemand unfreundlich angegangen bin, fällt es mir schwer, das von mir aus anzusprechen, vor allem wenn das mündlich war. Es ist natürlich okay und gut, wenn andere mich dann darauf ansprechen, damit das geklärt werden kann.
Ist das nun Meltdown, was ich erlebe? Auch ohne ganz vollen Kontrollverlust? Auch wenn “nur” eine Weile meine Emotionen Wellen schlagen (Redewendung)?
Wir würden uns gerne noch weitere Berichte dieser Art wünschen, um sie in einem 2. Teil zu veröffentlichen! Ihr könnt sie an neuroqueer.blog@gmail.com schicken oder euch über unseren Twitter-Account mit uns in Verbindung setzen.